Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder aus-
zugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in
jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall
der Zustimmung des Verlages.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der
gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Megan Hart
Naked – Hemmungslose Spiele
Erotischer Roman
Aus dem Amerikanischen von
Jule Winter
1. KAPITEL
„Alex steht nicht auf Frauen.“ Wie Patrick
das sagte, klang es nach Warnung. Ich hatte
den Mann, um den es ging, wohl etwas sehr
auffällig aus dem Augenwinkel beobachtet,
aber bislang eigentlich nur als Teil des
großen Gesamtbilds wahrgenommen, das
ganz typisch war für Patricks alljährliche
Weihnukka-Party. Alex war eindeutig hüb-
scher als die nach einer Idee von Martha Ste-
wart arrangierten Weihnachtssterne oder die
blinkenden Lichterketten. Aber das traf auf
alle Männer hier zu. Patrick hatte die
heißesten Freunde, die ich je gesehen habe.
Ehrlich, seine Partys waren praktisch eine
offizielle Versammlung der heißesten Typen
auf Erden. Nach seiner Ermahnung schaute
ich mir Alex natürlich noch genauer an, al-
lein schon, um Patrick damit auf die Nerven
zu gehen. Was wie immer wunderbar
klappte.
„Ach, so heißt er also?“
Patrick schnaubte missbilligend. „Ja, so
heißt er.“
„Alex … und weiter?“
„Kennedy“, sagte Patrick. „Aber er steht
nicht …“
„Ich hab dich schon verstanden.“ Ich
drückte meine Lippen gegen den Rand
meines Weinglases. Der intensive Duft des
Rotweins stieg mir in die Nase. Ich konnte
das Aroma förmlich auf der Zunge schmeck-
en, aber ich trank nicht. „Er steht also nicht
auf Frauen, hm?“
Patrick zog einen Schmollmund und vers-
chränkte die Arme vor der Brust. „Nein.
Himmel, Olivia! Jetzt hör schon auf, ihm auf
den Arsch zu glotzen.“
Ich hob eine Augenbraue und ahmte damit
exakt Patricks süffisante Miene von vorhin
nach. Eine alte Angewohnheit von mir – und
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eine, die ihn zuverlässig zur Weißglut trieb.
„Warum lädst du mich eigentlich zu deinen
Partys ein, wenn ich den Männern nicht auf
den Arsch glotzen darf?“
Patrick echauffierte sich, wie nur er das
konnte. Er zog kurz die Stirn kraus und
spitzte empört die Lippen. Doch dann fiel
ihm ein, was das mit den Falten um seinen
Mund und zwischen seinen Brauen machte,
und er bändigte seine Mimik rasch wieder.
Sein Blick folgte meinem quer durch das
Esszimmer und durch den Türbogen. Alex
stand mit dem Rücken zu uns. Er hatte einen
Arm auf den Kaminsims im Wohnzimmer
gestützt und hielt in der freien Hand ein Glas
Guinness. Während der ganzen Zeit, die ich
ihn beobachtete, hatte er noch keinen
Schluck getrunken.
„Und warum um alles in der Welt weist du
mich extra auf seine sexuellen Vorlieben
hin?“ Ich nahm jetzt doch einen Schluck
9/842
Wein und starrte Patrick so lange unver-
wandt an, bis er entnervt wegschaute.
Er zuckte mit den Schultern. „Ich wollte
nur sicherstellen, dass du Bescheid weißt.“
Ich ließ meinen Blick durch den Raum
schweifen. Von dem halben Dutzend Män-
ner, die sich am Büfett bedienten, und dem
weiteren Dutzend, das im Wohnzimmer
stand, redete, tanzte oder flirtete, waren
neunundneuzig Prozent schwul. Und das
restliche Prozent spielte mit dem Gedanken,
schwul zu werden. „Du glaubst doch nicht
ernsthaft, dass ich mir Hoffnung mache, auf
einer deiner Partys jemanden abzuschlep-
pen, Patrick.“
Plötzlich umschlossen mich von hinten
zwei dicke, muskelbepackte Arme, und ein
straffer Bauch drückte gegen meinen Rück-
en. „Komm, wir laufen weg und schauen, wie
lange es dauert, bis er merkt, dass wir ver-
schwunden sind“, sagte eine dunkle Stimme
direkt neben meinem Ohr.
10/842
Ich drehte mich um. „Patrick, du hast mir
gar nicht erzählt, dass du Billy Dee Williams
zur Party eingeladen hast. Ach nein, halt!
Billy Dee würde niemals so einen Pullover
tragen. Hallo, Teddy.“
„Mädchen, mach bloß keine Witze über
diesen Pullover. Mama McDonald hat ihn
mir zu Weihnachten geschenkt. Patrick hier
hat genauso einen gekriegt.“ Teddy
zwinkerte Patrick zu. „Der Unterschied ist
nur der, dass ich Manns genug bin, das Ding
auch zu tragen.“
Ich wurde noch mal umarmt, fest
gedrückt, bekam einen Kuss und einen Klaps
auf den Arsch, und das alles innerhalb weni-
ger Sekunden. Dann wandte Teddy sich Pat-
rick zu und ließ ihm dieselbe zärtliche Be-
handlung angedeihen. Patrick, der immer
noch schmollte, schubste ihn unwillig weg.
Teddy lachte und wuschelte mit einer Hand
durch Patricks Haare. Patrick glättete mit
gekränkter Miene seine gerupften Federn,
11/842
ließ sich dann aber doch dazu herab, einen
Wangenkuss zu akzeptieren.
Ich deutete mit dem Weinglas auf Patrick.
„Er hat eben versucht, mir zu sagen, dass ich
keinen Arsch anstarren darf.“
„Was soll das denn? Ich dachte, wir sind
heute alle hier, um auf Männerärsche zu
starren?“
Teddy wackelte kokett mit seinem und ich
mit meinem, dann ließen wir unsere jeweili-
gen Hinterteile aufeinanderprallen und bra-
chen in übermütiges Gelächter aus. Fröh-
liche Weihnachten! Patrick musterte uns mit
erhobenen Augenbrauen, die Arme wieder
vor der Brust verschränkt. Dann schüttelte er
resigniert den Kopf.
„Tut mir leid. Ich habe nur versucht, ein
guter Freund zu sein.“
Patrick und ich waren schon sehr lange be-
freundet. Und vor sehr langer Zeit waren wir
sogar mehr als das gewesen. Patrick dachte,
dass ihm das bis heute das Recht gab, sich
12/842
mir gegenüber wie eine besorgte alte Tante
zu verhalten, und ich ließ ihn in dem
Glauben. Weil ich ihn nun mal liebte. Und
weil es nie so viel Liebe in meinem Leben
geben konnte, dass ich auch nur auf das
kleinste bisschen verzichten würde.
Diesmal schien Patricks Verhalten aber
selbst für seine Verhältnisse etwas extrem zu
sein. Teddy und ich blickten einander fra-
gend an. Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich lauf nur kurz in die Küche und hol
mehr Wein, ihr Süßen“, sagte Teddy. „Wollt
ihr auch?“
„Ich hab noch.“ Ich hielt mein Glas hoch,
das noch halb voll war.
Patrick schüttelte den Kopf. Wir beo-
bachteten, wie Teddy sich durch die Menge
schob. Erst als er außer Hörweite war,
wandte ich mich wieder an meinen
Exfreund.
13/842
„Wenn du mir auf deine unnachahmliche
Art zu verstehen geben willst, dass du mit
diesem Typen geschlafen hast …“
Patrick lachte kurz und bellend auf, und
dieses Lachen klang so anders als sonst, dass
ich überrascht verstummte. Er schüttelte den
Kopf. „Ach nein, mit dem doch nicht.“
Dabei wich er meinem Blick aus, und
plötzlich war mir alles klar. Er brauchte gar
nichts mehr zu sagen. Ich hatte die ganze
Geschichte klar vor Augen. Verdammt.
Mein Grinsen war wie weggewischt. Pat-
rick hatte aus seinem Privatleben nie ein
großes Geheimnis gemacht, und so hatte ich
mehr über die Männer erfahren, mit denen
er schlief, als mir lieb war. Daher wusste ich:
Patrick wurde nicht abgewiesen. Zumindest
nicht allzu oft. Ich sah, wie eine tiefe Röte
seine perfekten hohen Wangenknochen
überzog.
Ehrfürchtig schaute ich zu Alex Kennedy
herüber. „Er hat dir einen Korb gegeben?“
14/842
„Pssst!“, machte Patrick, obwohl die Musik
und die Gespräche um uns herum zu laut
waren, als dass uns jemand belauschen
könnte.
„Wow.“
Er kniff die Lippen zusammen. „Dazu sage
ich kein Wort mehr.“
Ich konnte meinen Blick jetzt gar nicht
mehr von Alex Kennedy losreißen, der im-
mer noch auf seinem alten Platz am Kamin-
sims stand. Jetzt erst fiel mir die Bügelfalte
in seiner schwarzen Hose auf und wie sexy
der weiche schwarze Pullover seine breiten
Schultern und die schmalen Hüften um-
spielte. Aus der Entfernung konnte ich ei-
gentlich nur erkennen, dass er dunkle Augen
hatte. Und dass er sein mittelbraunes Haar
ziemlich lang trug und so lässig, als ob er
genau ein Mal zu oft mit der Hand
hindurchgefahren war. Oder als ob er
geradeswegs aus dem Bett hierhergekommen
wäre. Haare wie seine brauchten viel Pflege
15/842
und Stylingprodukte, um wirklich gut aus-
zusehen, und bei ihm hatte das toll funk-
tioniert. Auch seine Züge schienen, von hier
aus betrachtet, regelmäßig und attraktiv zu
sein. Ja, Alex war ein hübscher Junge, das
stand außer Frage. Doch wenn Patrick nicht
seine „Wage es bloß nicht!“-Tirade los-
gelassen hätte, dann hätte ich vielleicht ein-
mal hingeschaut, vielleicht auch zweimal.
Aber danach nie wieder.
„Wie kommt’s, dass ich ihm noch nie
begegnet bin?“
„Er ist nicht von hier“, sagte Patrick.
Alex schien in ein intensives Gespräch mit
einem von Patricks Freunden vertieft zu
sein. Ihre Gesichter waren ernst und an-
gespannt. Kein Flirt. Der Mann, der Alex ge-
genüberstand, trank mit fahrigen Bewegun-
gen, und sein Adamsapfel tanzte, wenn er
schluckte.
Ich musste gar nicht erst meine Hände
heben und die Daumen und Zeigefinger
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aneinanderlegen, um einen Rahmen für das
Foto zu haben, das ich im Geiste kom-
ponierte. Inzwischen machte mein Gehirn
das ganz automatisch. Klick. Ich hatte meine
Kamera zwar nicht dabei, aber ich konnte
mir ganz genau vorstellen, wie das fertige
Bild aussehen würde. Alex stand nicht ganz
im Zentrum und war etwas unscharf …
Patrick murmelte „Olivia!“ und stieß mir
den Ellbogen in die Seite.
Ich schaute ihn wieder an. „Hör schon auf,
dich wie eine Glucke zu verhalten, Patrick.
Glaubst du, ich bin eine Idiotin?“
Er runzelte die Stirn. „Nein, natürlich
nicht. Ich will einfach nicht …“
In diesem Moment tauchte Teddy wieder
auf, und Patrick unterbrach sich mit einem
gequälten Lächeln. Ich kannte dieses
Lächeln und auch den Blick, der es beg-
leitete, auch wenn ich beides schon lange
nicht mehr gesehen hatte. Patrick verbarg et-
was vor mir.
17/842
Jetzt legte Teddy einen Arm um Patricks
Schultern und zog ihn an sich, um an seiner
Wange zu schnuppern. „Komm schon“, gur-
rte er. „Die Käseplatten sind schon ziemlich
ausgeräubert, und wir haben fast keinen
Wein mehr. Komm mit in die Küche, Lieb-
ster, dann kriegst du was besonders Leckeres
von mir …“
Vor Teddy war Patrick mit keinem Mann
länger zusammengeblieben als damals mit
mir. Beziehungstechnisch hatte Teddy mich
jetzt also überholt. Ich hatte ihn aber
trotzdem sehr gern, oder vielleicht auch
gerade deshalb. Ich wusste, dass Patrick ihn
liebte, obwohl er das selten so direkt sagte.
Und weil ich Patrick auch liebte, wollte ich,
dass er glücklich war.
Patrick schaute noch einmal feindselig zu
Alex hinüber und zurück zu mir. Ich dachte,
er wollte vielleicht noch etwas sagen, doch er
schüttelte nur den Kopf und ließ sich von
Teddy Richtung Küche ziehen. Ich nutzte die
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Gelegenheit, mir noch mal in aller Ruhe Alex
Kennedys wirklich sehr, sehr geilen Arsch
anzuschauen.
„Livvy! Frohes Fest!“ Das war Jerald. Noch
einer von Patricks Freunden. Er hatte schon
öfters für mich gemodelt. Ein Geschäft auf
Gegenseitigkeit: Er bekam ein paar schöne
Porträtaufnahmen für seine Bewer-
bungsmappe, und ich durfte die Fotos von
ihm in das Portfolio aufnehmen, mit dem ich
um Aufträge für meine Grafikdesign-Agentur
warb. „Wann machst du wieder ein paar
schöne Fotos von mir, hm?“
„Wann kannst du denn mal wieder bei mir
vorbeischauen?“
Jerald strahlte mich an. Seine Zähne war-
en perfekt. „Wann immer du mich brauchst.“
Wir plauderten ein paar Minuten über das
Wann, Wo und Wofür, dann umarmte er
mich, gab mir einen Kuss und verschwand,
um jemanden mit einem Penis aufzutun. Das
war schon in Ordnung, es machte mir nichts
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aus, auf Patricks Partys allein unterwegs zu
sein. Ich kannte die meisten seiner Freunde.
Die, die er noch nicht so lange kannte, be-
trachteten mich zwar als eine Kuriosität. Ein
Relikt aus alter Zeit. Ich war die Frau, mit
der Patrick zusammen gewesen war, ehe er
sein Coming-out hatte. Aber sie waren nett
zu mir, wenn sie mir auch manchmal heim-
lich mitleidige Blicke zuwarfen. Alkohol half
natürlich. Und mit den Freunden, die Patrick
und mich seit dem College kannten, konnte
ich über die gute alte Zeit lachen, als wir
beide noch ein Paar waren.
Mit dem Weinglas in der Hand ging ich
zum Büfett und lud meinen Teller mit allen
möglichen Delikatessen voll. Quadratische
Naan-Brote, zu denen es würzigen Hummus
gab, Käsewürfel, die man in Honigsenf mit
Cranberrys dippen konnte, und ein paar rote
Weintrauben, die noch verloren an den Re-
bästen hingen. Patrick und Teddy wussten,
wie man eine anständige Party gab, und
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obwohl es der Samstag nach Thanksgiving
war, hatte ich noch genug Platz im Magen
für so leckeres Essen. Ich überlegte gerade,
ob ich von dem Roastbeef probieren sollte,
das neben den krossen Baguettebrötchen lag,
oder ob der figurschonende Erdbeer-
Walnuss-Salat nicht vernünftiger wäre, als
jemand mich an die Schulter tippte. Ich dre-
hte mich um.
„Hey, Süße!“
Patricks Nachbarin Nadia. Ich drehte mich
um, das Brötchen noch in der Hand. Nadia
war immer ausgesprochen nett zu mir. Nicht
dass sie dazu keinen Grund gehabt hätte,
aber ich hatte doch den Verdacht, dass diese
überschäumende Freundlichkeit von Hin-
tergedanken genährt war. Und heute Abend
erwies sich diese Vermutung als richtig.
„Ich möchte dir gern Carlos vorstellen.
Meinen Freund.“ Nadia hatte ein hübsches
Lächeln. Ansonsten war ihr Gesicht ziemlich
unscheinbar. Aber wenn sie lächelte, wollte
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ich sie am liebsten sofort fotografieren.
Dieses Lächeln verwandelte die ganze Frau.
„Freut mich“, murmelte Carlos. Sein Blick
war sehnsüchtig auf das Büfett gerichtet,
doch Nadia hielt ihn so fest, dass er keine
Chance hatte, etwas Essbares zu ergattern.
„Nett, dich kennenzulernen, Carlos.“
Nadia blickte erwartungsvoll von ihm zu
mir. Carlos’ dunkle Augen glitten kurz über
mein Gesicht, ehe er meinen Blick erwiderte.
Dann schaute er Nadia an, die ihre Hand fest
in seine Ellenbeuge gelegt hatte. Ihre Haut
wirkte neben seiner sehr weiß. Ich glaube,
uns war beiden klar, was sie erwartete. Aber
keiner von uns war bereit, es ihr zu geben.
Ich wusste bis zur zweiten Klasse nicht,
dass ich schwarz bin. Oh, natürlich habe ich
schon immer gewusst, dass meine Haut
dunkler war als die meiner Eltern und
Brüder. Auch sonst sah ich ihnen nicht ähn-
lich. Sie hatten nie ein Geheimnis daraus
gemacht, dass ich adoptiert worden war, und
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wir feierten jedes Jahr nicht nur meinen Ge-
burtstag, sondern auch den Tag, an dem ich
Teil der Familie geworden war. Ich hatte nie
das Gefühl, nicht aus ganzem Herzen geliebt
zu werden. Ich wurde sogar hemmungslos
verwöhnt – von zwei viel älteren Brüdern
und von Eltern, die, wie ich später erfuhr,
verzweifelt versucht hatten, mich dafür zu
entschädigen, dass ihre Ehe vor die Hunde
gegangen war.
Ich hatte immer geglaubt, ich sei etwas
Besonderes. Aber bis zur zweiten Klasse
hatte ich nie verstanden, dass ich auch … an-
ders war.
Desiree Johnson zog damals in unsere Ge-
gend, und so kam sie in die Grundschule in
Ardmore. Vorher hatte sie in der City von
Philadelphia gewohnt. Sie hatte das Haar zu
Hunderten winziger Zöpfchen geflochten,
die eng an ihrem Kopf anlagen und an den
Enden mit Plastikspangen verschlossen war-
en. Sie trug T-Shirts mit Goldschriftzügen
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und weiche Velourshosen. Ihre Sneaker war-
en strahlend weiß und irgendwie zu groß für
ihre Füße. Sie war anders, und wir alle star-
rten sie unverhohlen an, als sie das erste Mal
in unser Klassenzimmer kam.
Unsere Lehrerin, Miss Dippold, hatte uns
an diesem Morgen erzählt, wir bekämen eine
neue Mitschülerin. Sie hatte uns ausdrück-
lich darauf hingewiesen, wie wichtig es sei,
nett zu neuen Mitschülern zu sein. Beson-
ders zu denen, die „nicht so“ waren wie wir.
Sie las uns eine Geschichte über Zeke vor –
ein Pony mit Streifen, das gar kein Pony,
sondern ein Zebra war. Sogar in der zweiten
Klasse hatte ich lange vor dem Ende kom-
men sehen, wie die Geschichte ausgehen
würde.
Was ich nicht hatte kommen sehen, war
Miss Dippolds Anweisung, mein Pult so zu
drehen, dass Desiree neben mir sitzen kon-
nte. Ich gehorchte natürlich. Ich war sogar
hocherfreut, weil Miss Dippold mich als
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Freundin für das neue Mädchen auserwählt
hatte. Hatte sie das vielleicht gemacht, weil
ich in dieser Woche die Klassenbeste im
Buchstabieren war und deshalb als Erste auf
den Pausenhof durfte? Oder hatte Miss Dip-
pold etwa bemerkt, dass ich Billy Miller
meinen besten Bleistift geliehen hatte, weil
seiner wieder mal zu Hause lag? Mein Pult
kratzte über den Fußboden, als ich es zur
Seite schob, und kleine Reste vom Bohner-
wachs rollten sich unter den Tischbeinen
auf. Hausmeister Randall stellte ein zweites
Pult und einen Stuhl neben meins.
Wie sich herausstellte, war nichts von
dem, was ich gedacht hatte, der Grund dafür,
dass die neue Mitschülerin zu mir gesetzt
wurde. Sondern etwas, worauf ich im Leben
nicht gekommen wäre.
„Hier“, sagte Miss Dippold, nachdem
Desiree sich hinter das neue Pult gesetzt
hatte. „Das ist Olivia. Ich bin sicher, ihr wer-
det bald die besten Freundinnen.“
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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder aus- zugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages. Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Megan Hart Naked – Hemmungslose Spiele Erotischer Roman Aus dem Amerikanischen von Jule Winter
MIRA® TASCHENBÜCHER erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann Copyright © 2013 by MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: Naked Copyright © 2010 by Megan Hart erschienen bei: SPICE Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln Redaktion: Bettina Lahrs Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz Satz: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-579-7 www.mira-taschenbuch.de Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook! eBook-Herstellung und Auslieferung:
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1. KAPITEL „Alex steht nicht auf Frauen.“ Wie Patrick das sagte, klang es nach Warnung. Ich hatte den Mann, um den es ging, wohl etwas sehr auffällig aus dem Augenwinkel beobachtet, aber bislang eigentlich nur als Teil des großen Gesamtbilds wahrgenommen, das ganz typisch war für Patricks alljährliche Weihnukka-Party. Alex war eindeutig hüb- scher als die nach einer Idee von Martha Ste- wart arrangierten Weihnachtssterne oder die blinkenden Lichterketten. Aber das traf auf alle Männer hier zu. Patrick hatte die heißesten Freunde, die ich je gesehen habe. Ehrlich, seine Partys waren praktisch eine offizielle Versammlung der heißesten Typen auf Erden. Nach seiner Ermahnung schaute ich mir Alex natürlich noch genauer an, al- lein schon, um Patrick damit auf die Nerven
zu gehen. Was wie immer wunderbar klappte. „Ach, so heißt er also?“ Patrick schnaubte missbilligend. „Ja, so heißt er.“ „Alex … und weiter?“ „Kennedy“, sagte Patrick. „Aber er steht nicht …“ „Ich hab dich schon verstanden.“ Ich drückte meine Lippen gegen den Rand meines Weinglases. Der intensive Duft des Rotweins stieg mir in die Nase. Ich konnte das Aroma förmlich auf der Zunge schmeck- en, aber ich trank nicht. „Er steht also nicht auf Frauen, hm?“ Patrick zog einen Schmollmund und vers- chränkte die Arme vor der Brust. „Nein. Himmel, Olivia! Jetzt hör schon auf, ihm auf den Arsch zu glotzen.“ Ich hob eine Augenbraue und ahmte damit exakt Patricks süffisante Miene von vorhin nach. Eine alte Angewohnheit von mir – und 8/842
eine, die ihn zuverlässig zur Weißglut trieb. „Warum lädst du mich eigentlich zu deinen Partys ein, wenn ich den Männern nicht auf den Arsch glotzen darf?“ Patrick echauffierte sich, wie nur er das konnte. Er zog kurz die Stirn kraus und spitzte empört die Lippen. Doch dann fiel ihm ein, was das mit den Falten um seinen Mund und zwischen seinen Brauen machte, und er bändigte seine Mimik rasch wieder. Sein Blick folgte meinem quer durch das Esszimmer und durch den Türbogen. Alex stand mit dem Rücken zu uns. Er hatte einen Arm auf den Kaminsims im Wohnzimmer gestützt und hielt in der freien Hand ein Glas Guinness. Während der ganzen Zeit, die ich ihn beobachtete, hatte er noch keinen Schluck getrunken. „Und warum um alles in der Welt weist du mich extra auf seine sexuellen Vorlieben hin?“ Ich nahm jetzt doch einen Schluck 9/842
Wein und starrte Patrick so lange unver- wandt an, bis er entnervt wegschaute. Er zuckte mit den Schultern. „Ich wollte nur sicherstellen, dass du Bescheid weißt.“ Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Von dem halben Dutzend Män- ner, die sich am Büfett bedienten, und dem weiteren Dutzend, das im Wohnzimmer stand, redete, tanzte oder flirtete, waren neunundneuzig Prozent schwul. Und das restliche Prozent spielte mit dem Gedanken, schwul zu werden. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mir Hoffnung mache, auf einer deiner Partys jemanden abzuschlep- pen, Patrick.“ Plötzlich umschlossen mich von hinten zwei dicke, muskelbepackte Arme, und ein straffer Bauch drückte gegen meinen Rück- en. „Komm, wir laufen weg und schauen, wie lange es dauert, bis er merkt, dass wir ver- schwunden sind“, sagte eine dunkle Stimme direkt neben meinem Ohr. 10/842
Ich drehte mich um. „Patrick, du hast mir gar nicht erzählt, dass du Billy Dee Williams zur Party eingeladen hast. Ach nein, halt! Billy Dee würde niemals so einen Pullover tragen. Hallo, Teddy.“ „Mädchen, mach bloß keine Witze über diesen Pullover. Mama McDonald hat ihn mir zu Weihnachten geschenkt. Patrick hier hat genauso einen gekriegt.“ Teddy zwinkerte Patrick zu. „Der Unterschied ist nur der, dass ich Manns genug bin, das Ding auch zu tragen.“ Ich wurde noch mal umarmt, fest gedrückt, bekam einen Kuss und einen Klaps auf den Arsch, und das alles innerhalb weni- ger Sekunden. Dann wandte Teddy sich Pat- rick zu und ließ ihm dieselbe zärtliche Be- handlung angedeihen. Patrick, der immer noch schmollte, schubste ihn unwillig weg. Teddy lachte und wuschelte mit einer Hand durch Patricks Haare. Patrick glättete mit gekränkter Miene seine gerupften Federn, 11/842
ließ sich dann aber doch dazu herab, einen Wangenkuss zu akzeptieren. Ich deutete mit dem Weinglas auf Patrick. „Er hat eben versucht, mir zu sagen, dass ich keinen Arsch anstarren darf.“ „Was soll das denn? Ich dachte, wir sind heute alle hier, um auf Männerärsche zu starren?“ Teddy wackelte kokett mit seinem und ich mit meinem, dann ließen wir unsere jeweili- gen Hinterteile aufeinanderprallen und bra- chen in übermütiges Gelächter aus. Fröh- liche Weihnachten! Patrick musterte uns mit erhobenen Augenbrauen, die Arme wieder vor der Brust verschränkt. Dann schüttelte er resigniert den Kopf. „Tut mir leid. Ich habe nur versucht, ein guter Freund zu sein.“ Patrick und ich waren schon sehr lange be- freundet. Und vor sehr langer Zeit waren wir sogar mehr als das gewesen. Patrick dachte, dass ihm das bis heute das Recht gab, sich 12/842
mir gegenüber wie eine besorgte alte Tante zu verhalten, und ich ließ ihn in dem Glauben. Weil ich ihn nun mal liebte. Und weil es nie so viel Liebe in meinem Leben geben konnte, dass ich auch nur auf das kleinste bisschen verzichten würde. Diesmal schien Patricks Verhalten aber selbst für seine Verhältnisse etwas extrem zu sein. Teddy und ich blickten einander fra- gend an. Ich zuckte mit den Schultern. „Ich lauf nur kurz in die Küche und hol mehr Wein, ihr Süßen“, sagte Teddy. „Wollt ihr auch?“ „Ich hab noch.“ Ich hielt mein Glas hoch, das noch halb voll war. Patrick schüttelte den Kopf. Wir beo- bachteten, wie Teddy sich durch die Menge schob. Erst als er außer Hörweite war, wandte ich mich wieder an meinen Exfreund. 13/842
„Wenn du mir auf deine unnachahmliche Art zu verstehen geben willst, dass du mit diesem Typen geschlafen hast …“ Patrick lachte kurz und bellend auf, und dieses Lachen klang so anders als sonst, dass ich überrascht verstummte. Er schüttelte den Kopf. „Ach nein, mit dem doch nicht.“ Dabei wich er meinem Blick aus, und plötzlich war mir alles klar. Er brauchte gar nichts mehr zu sagen. Ich hatte die ganze Geschichte klar vor Augen. Verdammt. Mein Grinsen war wie weggewischt. Pat- rick hatte aus seinem Privatleben nie ein großes Geheimnis gemacht, und so hatte ich mehr über die Männer erfahren, mit denen er schlief, als mir lieb war. Daher wusste ich: Patrick wurde nicht abgewiesen. Zumindest nicht allzu oft. Ich sah, wie eine tiefe Röte seine perfekten hohen Wangenknochen überzog. Ehrfürchtig schaute ich zu Alex Kennedy herüber. „Er hat dir einen Korb gegeben?“ 14/842
„Pssst!“, machte Patrick, obwohl die Musik und die Gespräche um uns herum zu laut waren, als dass uns jemand belauschen könnte. „Wow.“ Er kniff die Lippen zusammen. „Dazu sage ich kein Wort mehr.“ Ich konnte meinen Blick jetzt gar nicht mehr von Alex Kennedy losreißen, der im- mer noch auf seinem alten Platz am Kamin- sims stand. Jetzt erst fiel mir die Bügelfalte in seiner schwarzen Hose auf und wie sexy der weiche schwarze Pullover seine breiten Schultern und die schmalen Hüften um- spielte. Aus der Entfernung konnte ich ei- gentlich nur erkennen, dass er dunkle Augen hatte. Und dass er sein mittelbraunes Haar ziemlich lang trug und so lässig, als ob er genau ein Mal zu oft mit der Hand hindurchgefahren war. Oder als ob er geradeswegs aus dem Bett hierhergekommen wäre. Haare wie seine brauchten viel Pflege 15/842
und Stylingprodukte, um wirklich gut aus- zusehen, und bei ihm hatte das toll funk- tioniert. Auch seine Züge schienen, von hier aus betrachtet, regelmäßig und attraktiv zu sein. Ja, Alex war ein hübscher Junge, das stand außer Frage. Doch wenn Patrick nicht seine „Wage es bloß nicht!“-Tirade los- gelassen hätte, dann hätte ich vielleicht ein- mal hingeschaut, vielleicht auch zweimal. Aber danach nie wieder. „Wie kommt’s, dass ich ihm noch nie begegnet bin?“ „Er ist nicht von hier“, sagte Patrick. Alex schien in ein intensives Gespräch mit einem von Patricks Freunden vertieft zu sein. Ihre Gesichter waren ernst und an- gespannt. Kein Flirt. Der Mann, der Alex ge- genüberstand, trank mit fahrigen Bewegun- gen, und sein Adamsapfel tanzte, wenn er schluckte. Ich musste gar nicht erst meine Hände heben und die Daumen und Zeigefinger 16/842
aneinanderlegen, um einen Rahmen für das Foto zu haben, das ich im Geiste kom- ponierte. Inzwischen machte mein Gehirn das ganz automatisch. Klick. Ich hatte meine Kamera zwar nicht dabei, aber ich konnte mir ganz genau vorstellen, wie das fertige Bild aussehen würde. Alex stand nicht ganz im Zentrum und war etwas unscharf … Patrick murmelte „Olivia!“ und stieß mir den Ellbogen in die Seite. Ich schaute ihn wieder an. „Hör schon auf, dich wie eine Glucke zu verhalten, Patrick. Glaubst du, ich bin eine Idiotin?“ Er runzelte die Stirn. „Nein, natürlich nicht. Ich will einfach nicht …“ In diesem Moment tauchte Teddy wieder auf, und Patrick unterbrach sich mit einem gequälten Lächeln. Ich kannte dieses Lächeln und auch den Blick, der es beg- leitete, auch wenn ich beides schon lange nicht mehr gesehen hatte. Patrick verbarg et- was vor mir. 17/842
Jetzt legte Teddy einen Arm um Patricks Schultern und zog ihn an sich, um an seiner Wange zu schnuppern. „Komm schon“, gur- rte er. „Die Käseplatten sind schon ziemlich ausgeräubert, und wir haben fast keinen Wein mehr. Komm mit in die Küche, Lieb- ster, dann kriegst du was besonders Leckeres von mir …“ Vor Teddy war Patrick mit keinem Mann länger zusammengeblieben als damals mit mir. Beziehungstechnisch hatte Teddy mich jetzt also überholt. Ich hatte ihn aber trotzdem sehr gern, oder vielleicht auch gerade deshalb. Ich wusste, dass Patrick ihn liebte, obwohl er das selten so direkt sagte. Und weil ich Patrick auch liebte, wollte ich, dass er glücklich war. Patrick schaute noch einmal feindselig zu Alex hinüber und zurück zu mir. Ich dachte, er wollte vielleicht noch etwas sagen, doch er schüttelte nur den Kopf und ließ sich von Teddy Richtung Küche ziehen. Ich nutzte die 18/842
Gelegenheit, mir noch mal in aller Ruhe Alex Kennedys wirklich sehr, sehr geilen Arsch anzuschauen. „Livvy! Frohes Fest!“ Das war Jerald. Noch einer von Patricks Freunden. Er hatte schon öfters für mich gemodelt. Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: Er bekam ein paar schöne Porträtaufnahmen für seine Bewer- bungsmappe, und ich durfte die Fotos von ihm in das Portfolio aufnehmen, mit dem ich um Aufträge für meine Grafikdesign-Agentur warb. „Wann machst du wieder ein paar schöne Fotos von mir, hm?“ „Wann kannst du denn mal wieder bei mir vorbeischauen?“ Jerald strahlte mich an. Seine Zähne war- en perfekt. „Wann immer du mich brauchst.“ Wir plauderten ein paar Minuten über das Wann, Wo und Wofür, dann umarmte er mich, gab mir einen Kuss und verschwand, um jemanden mit einem Penis aufzutun. Das war schon in Ordnung, es machte mir nichts 19/842
aus, auf Patricks Partys allein unterwegs zu sein. Ich kannte die meisten seiner Freunde. Die, die er noch nicht so lange kannte, be- trachteten mich zwar als eine Kuriosität. Ein Relikt aus alter Zeit. Ich war die Frau, mit der Patrick zusammen gewesen war, ehe er sein Coming-out hatte. Aber sie waren nett zu mir, wenn sie mir auch manchmal heim- lich mitleidige Blicke zuwarfen. Alkohol half natürlich. Und mit den Freunden, die Patrick und mich seit dem College kannten, konnte ich über die gute alte Zeit lachen, als wir beide noch ein Paar waren. Mit dem Weinglas in der Hand ging ich zum Büfett und lud meinen Teller mit allen möglichen Delikatessen voll. Quadratische Naan-Brote, zu denen es würzigen Hummus gab, Käsewürfel, die man in Honigsenf mit Cranberrys dippen konnte, und ein paar rote Weintrauben, die noch verloren an den Re- bästen hingen. Patrick und Teddy wussten, wie man eine anständige Party gab, und 20/842
obwohl es der Samstag nach Thanksgiving war, hatte ich noch genug Platz im Magen für so leckeres Essen. Ich überlegte gerade, ob ich von dem Roastbeef probieren sollte, das neben den krossen Baguettebrötchen lag, oder ob der figurschonende Erdbeer- Walnuss-Salat nicht vernünftiger wäre, als jemand mich an die Schulter tippte. Ich dre- hte mich um. „Hey, Süße!“ Patricks Nachbarin Nadia. Ich drehte mich um, das Brötchen noch in der Hand. Nadia war immer ausgesprochen nett zu mir. Nicht dass sie dazu keinen Grund gehabt hätte, aber ich hatte doch den Verdacht, dass diese überschäumende Freundlichkeit von Hin- tergedanken genährt war. Und heute Abend erwies sich diese Vermutung als richtig. „Ich möchte dir gern Carlos vorstellen. Meinen Freund.“ Nadia hatte ein hübsches Lächeln. Ansonsten war ihr Gesicht ziemlich unscheinbar. Aber wenn sie lächelte, wollte 21/842
ich sie am liebsten sofort fotografieren. Dieses Lächeln verwandelte die ganze Frau. „Freut mich“, murmelte Carlos. Sein Blick war sehnsüchtig auf das Büfett gerichtet, doch Nadia hielt ihn so fest, dass er keine Chance hatte, etwas Essbares zu ergattern. „Nett, dich kennenzulernen, Carlos.“ Nadia blickte erwartungsvoll von ihm zu mir. Carlos’ dunkle Augen glitten kurz über mein Gesicht, ehe er meinen Blick erwiderte. Dann schaute er Nadia an, die ihre Hand fest in seine Ellenbeuge gelegt hatte. Ihre Haut wirkte neben seiner sehr weiß. Ich glaube, uns war beiden klar, was sie erwartete. Aber keiner von uns war bereit, es ihr zu geben. Ich wusste bis zur zweiten Klasse nicht, dass ich schwarz bin. Oh, natürlich habe ich schon immer gewusst, dass meine Haut dunkler war als die meiner Eltern und Brüder. Auch sonst sah ich ihnen nicht ähn- lich. Sie hatten nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich adoptiert worden war, und 22/842
wir feierten jedes Jahr nicht nur meinen Ge- burtstag, sondern auch den Tag, an dem ich Teil der Familie geworden war. Ich hatte nie das Gefühl, nicht aus ganzem Herzen geliebt zu werden. Ich wurde sogar hemmungslos verwöhnt – von zwei viel älteren Brüdern und von Eltern, die, wie ich später erfuhr, verzweifelt versucht hatten, mich dafür zu entschädigen, dass ihre Ehe vor die Hunde gegangen war. Ich hatte immer geglaubt, ich sei etwas Besonderes. Aber bis zur zweiten Klasse hatte ich nie verstanden, dass ich auch … an- ders war. Desiree Johnson zog damals in unsere Ge- gend, und so kam sie in die Grundschule in Ardmore. Vorher hatte sie in der City von Philadelphia gewohnt. Sie hatte das Haar zu Hunderten winziger Zöpfchen geflochten, die eng an ihrem Kopf anlagen und an den Enden mit Plastikspangen verschlossen war- en. Sie trug T-Shirts mit Goldschriftzügen 23/842
und weiche Velourshosen. Ihre Sneaker war- en strahlend weiß und irgendwie zu groß für ihre Füße. Sie war anders, und wir alle star- rten sie unverhohlen an, als sie das erste Mal in unser Klassenzimmer kam. Unsere Lehrerin, Miss Dippold, hatte uns an diesem Morgen erzählt, wir bekämen eine neue Mitschülerin. Sie hatte uns ausdrück- lich darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, nett zu neuen Mitschülern zu sein. Beson- ders zu denen, die „nicht so“ waren wie wir. Sie las uns eine Geschichte über Zeke vor – ein Pony mit Streifen, das gar kein Pony, sondern ein Zebra war. Sogar in der zweiten Klasse hatte ich lange vor dem Ende kom- men sehen, wie die Geschichte ausgehen würde. Was ich nicht hatte kommen sehen, war Miss Dippolds Anweisung, mein Pult so zu drehen, dass Desiree neben mir sitzen kon- nte. Ich gehorchte natürlich. Ich war sogar hocherfreut, weil Miss Dippold mich als 24/842
Freundin für das neue Mädchen auserwählt hatte. Hatte sie das vielleicht gemacht, weil ich in dieser Woche die Klassenbeste im Buchstabieren war und deshalb als Erste auf den Pausenhof durfte? Oder hatte Miss Dip- pold etwa bemerkt, dass ich Billy Miller meinen besten Bleistift geliehen hatte, weil seiner wieder mal zu Hause lag? Mein Pult kratzte über den Fußboden, als ich es zur Seite schob, und kleine Reste vom Bohner- wachs rollten sich unter den Tischbeinen auf. Hausmeister Randall stellte ein zweites Pult und einen Stuhl neben meins. Wie sich herausstellte, war nichts von dem, was ich gedacht hatte, der Grund dafür, dass die neue Mitschülerin zu mir gesetzt wurde. Sondern etwas, worauf ich im Leben nicht gekommen wäre. „Hier“, sagte Miss Dippold, nachdem Desiree sich hinter das neue Pult gesetzt hatte. „Das ist Olivia. Ich bin sicher, ihr wer- det bald die besten Freundinnen.“ 25/842