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Megan Hart - Naked - Hemmungslose Spiele

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anja011 EBooki Megan Hart
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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder aus- zugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages. Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Megan Hart Naked – Hemmungslose Spiele Erotischer Roman Aus dem Amerikanischen von Jule Winter

MIRA® TASCHENBÜCHER erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann Copyright © 2013 by MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: Naked Copyright © 2010 by Megan Hart erschienen bei: SPICE Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln Redaktion: Bettina Lahrs Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz Satz: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-579-7 www.mira-taschenbuch.de Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook! eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund www.readbox.net 6/842

1. KAPITEL „Alex steht nicht auf Frauen.“ Wie Patrick das sagte, klang es nach Warnung. Ich hatte den Mann, um den es ging, wohl etwas sehr auffällig aus dem Augenwinkel beobachtet, aber bislang eigentlich nur als Teil des großen Gesamtbilds wahrgenommen, das ganz typisch war für Patricks alljährliche Weihnukka-Party. Alex war eindeutig hüb- scher als die nach einer Idee von Martha Ste- wart arrangierten Weihnachtssterne oder die blinkenden Lichterketten. Aber das traf auf alle Männer hier zu. Patrick hatte die heißesten Freunde, die ich je gesehen habe. Ehrlich, seine Partys waren praktisch eine offizielle Versammlung der heißesten Typen auf Erden. Nach seiner Ermahnung schaute ich mir Alex natürlich noch genauer an, al- lein schon, um Patrick damit auf die Nerven

zu gehen. Was wie immer wunderbar klappte. „Ach, so heißt er also?“ Patrick schnaubte missbilligend. „Ja, so heißt er.“ „Alex … und weiter?“ „Kennedy“, sagte Patrick. „Aber er steht nicht …“ „Ich hab dich schon verstanden.“ Ich drückte meine Lippen gegen den Rand meines Weinglases. Der intensive Duft des Rotweins stieg mir in die Nase. Ich konnte das Aroma förmlich auf der Zunge schmeck- en, aber ich trank nicht. „Er steht also nicht auf Frauen, hm?“ Patrick zog einen Schmollmund und vers- chränkte die Arme vor der Brust. „Nein. Himmel, Olivia! Jetzt hör schon auf, ihm auf den Arsch zu glotzen.“ Ich hob eine Augenbraue und ahmte damit exakt Patricks süffisante Miene von vorhin nach. Eine alte Angewohnheit von mir – und 8/842

eine, die ihn zuverlässig zur Weißglut trieb. „Warum lädst du mich eigentlich zu deinen Partys ein, wenn ich den Männern nicht auf den Arsch glotzen darf?“ Patrick echauffierte sich, wie nur er das konnte. Er zog kurz die Stirn kraus und spitzte empört die Lippen. Doch dann fiel ihm ein, was das mit den Falten um seinen Mund und zwischen seinen Brauen machte, und er bändigte seine Mimik rasch wieder. Sein Blick folgte meinem quer durch das Esszimmer und durch den Türbogen. Alex stand mit dem Rücken zu uns. Er hatte einen Arm auf den Kaminsims im Wohnzimmer gestützt und hielt in der freien Hand ein Glas Guinness. Während der ganzen Zeit, die ich ihn beobachtete, hatte er noch keinen Schluck getrunken. „Und warum um alles in der Welt weist du mich extra auf seine sexuellen Vorlieben hin?“ Ich nahm jetzt doch einen Schluck 9/842

Wein und starrte Patrick so lange unver- wandt an, bis er entnervt wegschaute. Er zuckte mit den Schultern. „Ich wollte nur sicherstellen, dass du Bescheid weißt.“ Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Von dem halben Dutzend Män- ner, die sich am Büfett bedienten, und dem weiteren Dutzend, das im Wohnzimmer stand, redete, tanzte oder flirtete, waren neunundneuzig Prozent schwul. Und das restliche Prozent spielte mit dem Gedanken, schwul zu werden. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mir Hoffnung mache, auf einer deiner Partys jemanden abzuschlep- pen, Patrick.“ Plötzlich umschlossen mich von hinten zwei dicke, muskelbepackte Arme, und ein straffer Bauch drückte gegen meinen Rück- en. „Komm, wir laufen weg und schauen, wie lange es dauert, bis er merkt, dass wir ver- schwunden sind“, sagte eine dunkle Stimme direkt neben meinem Ohr. 10/842

Ich drehte mich um. „Patrick, du hast mir gar nicht erzählt, dass du Billy Dee Williams zur Party eingeladen hast. Ach nein, halt! Billy Dee würde niemals so einen Pullover tragen. Hallo, Teddy.“ „Mädchen, mach bloß keine Witze über diesen Pullover. Mama McDonald hat ihn mir zu Weihnachten geschenkt. Patrick hier hat genauso einen gekriegt.“ Teddy zwinkerte Patrick zu. „Der Unterschied ist nur der, dass ich Manns genug bin, das Ding auch zu tragen.“ Ich wurde noch mal umarmt, fest gedrückt, bekam einen Kuss und einen Klaps auf den Arsch, und das alles innerhalb weni- ger Sekunden. Dann wandte Teddy sich Pat- rick zu und ließ ihm dieselbe zärtliche Be- handlung angedeihen. Patrick, der immer noch schmollte, schubste ihn unwillig weg. Teddy lachte und wuschelte mit einer Hand durch Patricks Haare. Patrick glättete mit gekränkter Miene seine gerupften Federn, 11/842

ließ sich dann aber doch dazu herab, einen Wangenkuss zu akzeptieren. Ich deutete mit dem Weinglas auf Patrick. „Er hat eben versucht, mir zu sagen, dass ich keinen Arsch anstarren darf.“ „Was soll das denn? Ich dachte, wir sind heute alle hier, um auf Männerärsche zu starren?“ Teddy wackelte kokett mit seinem und ich mit meinem, dann ließen wir unsere jeweili- gen Hinterteile aufeinanderprallen und bra- chen in übermütiges Gelächter aus. Fröh- liche Weihnachten! Patrick musterte uns mit erhobenen Augenbrauen, die Arme wieder vor der Brust verschränkt. Dann schüttelte er resigniert den Kopf. „Tut mir leid. Ich habe nur versucht, ein guter Freund zu sein.“ Patrick und ich waren schon sehr lange be- freundet. Und vor sehr langer Zeit waren wir sogar mehr als das gewesen. Patrick dachte, dass ihm das bis heute das Recht gab, sich 12/842

mir gegenüber wie eine besorgte alte Tante zu verhalten, und ich ließ ihn in dem Glauben. Weil ich ihn nun mal liebte. Und weil es nie so viel Liebe in meinem Leben geben konnte, dass ich auch nur auf das kleinste bisschen verzichten würde. Diesmal schien Patricks Verhalten aber selbst für seine Verhältnisse etwas extrem zu sein. Teddy und ich blickten einander fra- gend an. Ich zuckte mit den Schultern. „Ich lauf nur kurz in die Küche und hol mehr Wein, ihr Süßen“, sagte Teddy. „Wollt ihr auch?“ „Ich hab noch.“ Ich hielt mein Glas hoch, das noch halb voll war. Patrick schüttelte den Kopf. Wir beo- bachteten, wie Teddy sich durch die Menge schob. Erst als er außer Hörweite war, wandte ich mich wieder an meinen Exfreund. 13/842

„Wenn du mir auf deine unnachahmliche Art zu verstehen geben willst, dass du mit diesem Typen geschlafen hast …“ Patrick lachte kurz und bellend auf, und dieses Lachen klang so anders als sonst, dass ich überrascht verstummte. Er schüttelte den Kopf. „Ach nein, mit dem doch nicht.“ Dabei wich er meinem Blick aus, und plötzlich war mir alles klar. Er brauchte gar nichts mehr zu sagen. Ich hatte die ganze Geschichte klar vor Augen. Verdammt. Mein Grinsen war wie weggewischt. Pat- rick hatte aus seinem Privatleben nie ein großes Geheimnis gemacht, und so hatte ich mehr über die Männer erfahren, mit denen er schlief, als mir lieb war. Daher wusste ich: Patrick wurde nicht abgewiesen. Zumindest nicht allzu oft. Ich sah, wie eine tiefe Röte seine perfekten hohen Wangenknochen überzog. Ehrfürchtig schaute ich zu Alex Kennedy herüber. „Er hat dir einen Korb gegeben?“ 14/842

„Pssst!“, machte Patrick, obwohl die Musik und die Gespräche um uns herum zu laut waren, als dass uns jemand belauschen könnte. „Wow.“ Er kniff die Lippen zusammen. „Dazu sage ich kein Wort mehr.“ Ich konnte meinen Blick jetzt gar nicht mehr von Alex Kennedy losreißen, der im- mer noch auf seinem alten Platz am Kamin- sims stand. Jetzt erst fiel mir die Bügelfalte in seiner schwarzen Hose auf und wie sexy der weiche schwarze Pullover seine breiten Schultern und die schmalen Hüften um- spielte. Aus der Entfernung konnte ich ei- gentlich nur erkennen, dass er dunkle Augen hatte. Und dass er sein mittelbraunes Haar ziemlich lang trug und so lässig, als ob er genau ein Mal zu oft mit der Hand hindurchgefahren war. Oder als ob er geradeswegs aus dem Bett hierhergekommen wäre. Haare wie seine brauchten viel Pflege 15/842

und Stylingprodukte, um wirklich gut aus- zusehen, und bei ihm hatte das toll funk- tioniert. Auch seine Züge schienen, von hier aus betrachtet, regelmäßig und attraktiv zu sein. Ja, Alex war ein hübscher Junge, das stand außer Frage. Doch wenn Patrick nicht seine „Wage es bloß nicht!“-Tirade los- gelassen hätte, dann hätte ich vielleicht ein- mal hingeschaut, vielleicht auch zweimal. Aber danach nie wieder. „Wie kommt’s, dass ich ihm noch nie begegnet bin?“ „Er ist nicht von hier“, sagte Patrick. Alex schien in ein intensives Gespräch mit einem von Patricks Freunden vertieft zu sein. Ihre Gesichter waren ernst und an- gespannt. Kein Flirt. Der Mann, der Alex ge- genüberstand, trank mit fahrigen Bewegun- gen, und sein Adamsapfel tanzte, wenn er schluckte. Ich musste gar nicht erst meine Hände heben und die Daumen und Zeigefinger 16/842

aneinanderlegen, um einen Rahmen für das Foto zu haben, das ich im Geiste kom- ponierte. Inzwischen machte mein Gehirn das ganz automatisch. Klick. Ich hatte meine Kamera zwar nicht dabei, aber ich konnte mir ganz genau vorstellen, wie das fertige Bild aussehen würde. Alex stand nicht ganz im Zentrum und war etwas unscharf … Patrick murmelte „Olivia!“ und stieß mir den Ellbogen in die Seite. Ich schaute ihn wieder an. „Hör schon auf, dich wie eine Glucke zu verhalten, Patrick. Glaubst du, ich bin eine Idiotin?“ Er runzelte die Stirn. „Nein, natürlich nicht. Ich will einfach nicht …“ In diesem Moment tauchte Teddy wieder auf, und Patrick unterbrach sich mit einem gequälten Lächeln. Ich kannte dieses Lächeln und auch den Blick, der es beg- leitete, auch wenn ich beides schon lange nicht mehr gesehen hatte. Patrick verbarg et- was vor mir. 17/842

Jetzt legte Teddy einen Arm um Patricks Schultern und zog ihn an sich, um an seiner Wange zu schnuppern. „Komm schon“, gur- rte er. „Die Käseplatten sind schon ziemlich ausgeräubert, und wir haben fast keinen Wein mehr. Komm mit in die Küche, Lieb- ster, dann kriegst du was besonders Leckeres von mir …“ Vor Teddy war Patrick mit keinem Mann länger zusammengeblieben als damals mit mir. Beziehungstechnisch hatte Teddy mich jetzt also überholt. Ich hatte ihn aber trotzdem sehr gern, oder vielleicht auch gerade deshalb. Ich wusste, dass Patrick ihn liebte, obwohl er das selten so direkt sagte. Und weil ich Patrick auch liebte, wollte ich, dass er glücklich war. Patrick schaute noch einmal feindselig zu Alex hinüber und zurück zu mir. Ich dachte, er wollte vielleicht noch etwas sagen, doch er schüttelte nur den Kopf und ließ sich von Teddy Richtung Küche ziehen. Ich nutzte die 18/842

Gelegenheit, mir noch mal in aller Ruhe Alex Kennedys wirklich sehr, sehr geilen Arsch anzuschauen. „Livvy! Frohes Fest!“ Das war Jerald. Noch einer von Patricks Freunden. Er hatte schon öfters für mich gemodelt. Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: Er bekam ein paar schöne Porträtaufnahmen für seine Bewer- bungsmappe, und ich durfte die Fotos von ihm in das Portfolio aufnehmen, mit dem ich um Aufträge für meine Grafikdesign-Agentur warb. „Wann machst du wieder ein paar schöne Fotos von mir, hm?“ „Wann kannst du denn mal wieder bei mir vorbeischauen?“ Jerald strahlte mich an. Seine Zähne war- en perfekt. „Wann immer du mich brauchst.“ Wir plauderten ein paar Minuten über das Wann, Wo und Wofür, dann umarmte er mich, gab mir einen Kuss und verschwand, um jemanden mit einem Penis aufzutun. Das war schon in Ordnung, es machte mir nichts 19/842

aus, auf Patricks Partys allein unterwegs zu sein. Ich kannte die meisten seiner Freunde. Die, die er noch nicht so lange kannte, be- trachteten mich zwar als eine Kuriosität. Ein Relikt aus alter Zeit. Ich war die Frau, mit der Patrick zusammen gewesen war, ehe er sein Coming-out hatte. Aber sie waren nett zu mir, wenn sie mir auch manchmal heim- lich mitleidige Blicke zuwarfen. Alkohol half natürlich. Und mit den Freunden, die Patrick und mich seit dem College kannten, konnte ich über die gute alte Zeit lachen, als wir beide noch ein Paar waren. Mit dem Weinglas in der Hand ging ich zum Büfett und lud meinen Teller mit allen möglichen Delikatessen voll. Quadratische Naan-Brote, zu denen es würzigen Hummus gab, Käsewürfel, die man in Honigsenf mit Cranberrys dippen konnte, und ein paar rote Weintrauben, die noch verloren an den Re- bästen hingen. Patrick und Teddy wussten, wie man eine anständige Party gab, und 20/842

obwohl es der Samstag nach Thanksgiving war, hatte ich noch genug Platz im Magen für so leckeres Essen. Ich überlegte gerade, ob ich von dem Roastbeef probieren sollte, das neben den krossen Baguettebrötchen lag, oder ob der figurschonende Erdbeer- Walnuss-Salat nicht vernünftiger wäre, als jemand mich an die Schulter tippte. Ich dre- hte mich um. „Hey, Süße!“ Patricks Nachbarin Nadia. Ich drehte mich um, das Brötchen noch in der Hand. Nadia war immer ausgesprochen nett zu mir. Nicht dass sie dazu keinen Grund gehabt hätte, aber ich hatte doch den Verdacht, dass diese überschäumende Freundlichkeit von Hin- tergedanken genährt war. Und heute Abend erwies sich diese Vermutung als richtig. „Ich möchte dir gern Carlos vorstellen. Meinen Freund.“ Nadia hatte ein hübsches Lächeln. Ansonsten war ihr Gesicht ziemlich unscheinbar. Aber wenn sie lächelte, wollte 21/842

ich sie am liebsten sofort fotografieren. Dieses Lächeln verwandelte die ganze Frau. „Freut mich“, murmelte Carlos. Sein Blick war sehnsüchtig auf das Büfett gerichtet, doch Nadia hielt ihn so fest, dass er keine Chance hatte, etwas Essbares zu ergattern. „Nett, dich kennenzulernen, Carlos.“ Nadia blickte erwartungsvoll von ihm zu mir. Carlos’ dunkle Augen glitten kurz über mein Gesicht, ehe er meinen Blick erwiderte. Dann schaute er Nadia an, die ihre Hand fest in seine Ellenbeuge gelegt hatte. Ihre Haut wirkte neben seiner sehr weiß. Ich glaube, uns war beiden klar, was sie erwartete. Aber keiner von uns war bereit, es ihr zu geben. Ich wusste bis zur zweiten Klasse nicht, dass ich schwarz bin. Oh, natürlich habe ich schon immer gewusst, dass meine Haut dunkler war als die meiner Eltern und Brüder. Auch sonst sah ich ihnen nicht ähn- lich. Sie hatten nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich adoptiert worden war, und 22/842

wir feierten jedes Jahr nicht nur meinen Ge- burtstag, sondern auch den Tag, an dem ich Teil der Familie geworden war. Ich hatte nie das Gefühl, nicht aus ganzem Herzen geliebt zu werden. Ich wurde sogar hemmungslos verwöhnt – von zwei viel älteren Brüdern und von Eltern, die, wie ich später erfuhr, verzweifelt versucht hatten, mich dafür zu entschädigen, dass ihre Ehe vor die Hunde gegangen war. Ich hatte immer geglaubt, ich sei etwas Besonderes. Aber bis zur zweiten Klasse hatte ich nie verstanden, dass ich auch … an- ders war. Desiree Johnson zog damals in unsere Ge- gend, und so kam sie in die Grundschule in Ardmore. Vorher hatte sie in der City von Philadelphia gewohnt. Sie hatte das Haar zu Hunderten winziger Zöpfchen geflochten, die eng an ihrem Kopf anlagen und an den Enden mit Plastikspangen verschlossen war- en. Sie trug T-Shirts mit Goldschriftzügen 23/842

und weiche Velourshosen. Ihre Sneaker war- en strahlend weiß und irgendwie zu groß für ihre Füße. Sie war anders, und wir alle star- rten sie unverhohlen an, als sie das erste Mal in unser Klassenzimmer kam. Unsere Lehrerin, Miss Dippold, hatte uns an diesem Morgen erzählt, wir bekämen eine neue Mitschülerin. Sie hatte uns ausdrück- lich darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, nett zu neuen Mitschülern zu sein. Beson- ders zu denen, die „nicht so“ waren wie wir. Sie las uns eine Geschichte über Zeke vor – ein Pony mit Streifen, das gar kein Pony, sondern ein Zebra war. Sogar in der zweiten Klasse hatte ich lange vor dem Ende kom- men sehen, wie die Geschichte ausgehen würde. Was ich nicht hatte kommen sehen, war Miss Dippolds Anweisung, mein Pult so zu drehen, dass Desiree neben mir sitzen kon- nte. Ich gehorchte natürlich. Ich war sogar hocherfreut, weil Miss Dippold mich als 24/842

Freundin für das neue Mädchen auserwählt hatte. Hatte sie das vielleicht gemacht, weil ich in dieser Woche die Klassenbeste im Buchstabieren war und deshalb als Erste auf den Pausenhof durfte? Oder hatte Miss Dip- pold etwa bemerkt, dass ich Billy Miller meinen besten Bleistift geliehen hatte, weil seiner wieder mal zu Hause lag? Mein Pult kratzte über den Fußboden, als ich es zur Seite schob, und kleine Reste vom Bohner- wachs rollten sich unter den Tischbeinen auf. Hausmeister Randall stellte ein zweites Pult und einen Stuhl neben meins. Wie sich herausstellte, war nichts von dem, was ich gedacht hatte, der Grund dafür, dass die neue Mitschülerin zu mir gesetzt wurde. Sondern etwas, worauf ich im Leben nicht gekommen wäre. „Hier“, sagte Miss Dippold, nachdem Desiree sich hinter das neue Pult gesetzt hatte. „Das ist Olivia. Ich bin sicher, ihr wer- det bald die besten Freundinnen.“ 25/842